Die Apfelsine des Waisenknaben

Impuls 009

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Impulsfragen an den geneigten Hörer/Leser:
  • Wo habe ich bereits eine Apfelsine von anderen bekommen?
  • Inwieweit erfahre ich liebevolle Freundschaft und Zuwendung in meinem Leben?
  • Wo gebe ich gerne einen Teil meiner Frucht ab?

Schon als kleiner Junge hatte ich meine Eltern verloren und kam mit neun Jahren in ein Waisenhaus in der Nähe von London. Es war mehr ein Gefängnis. Wir mussten jeden Tag vierzehn Stunden arbeiten – im Garten, in der Küche, im Stall, auf dem Feld. Kein Tag brachte eine Abwechslung, und im ganzen Jahr gab es für uns nur einen einzigen Ruhetag: Das war der Weihnachtstag. Dann bekam jeder Junge eine Apfelsine zum Christfest. Das war alles. Keine Süßigkeiten. Kein Spielzeug. Aber auch diese Apfelsine bekam nur derjenige, der sich im Laufe des letzten Jahres nichts hatte zu Schulden kommen lassen und immer folgsam gewesen war. Diese Apfelsine an Weihnachten verkörperte die Sehnsucht eines ganzen Jahres.

So war wieder einmal das Weihnachtsfest herangekommen. Aber es bedeutete für mein Knabenherz fast das Ende der Welt. Während die anderen Jungen am Waisenhausvater vorbeischritten und jeder seine Apfelsine in Empfang nahm, musste ich in einer Zimmerecke stehen und zusehen. Das war meine Strafe dafür, dass ich eines Tages im Sommer aus dem Waisenhaus hatte weglaufen wollen. Als nun die Geschenkverteilung vorüber war, durften die anderen Knaben im Hof spielen. Ich hingegen musste in den Schlafraum gehen und dort den ganzen Tag über im Bett liegenbleiben. Ich war tieftraurig und beschämt. Ich weinte und wollte nicht länger leben. Nach einer Weile hörte ich Schritte im Zimmer. Eine Hand zog die Bettdecke weg, unter die ich mich verkrochen hatte. Ich blickte auf: Ein kleiner Junge namens William stand vor meinem Bett, hatte eine Apfelsine in der Hand und streckte sie mir entgegen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Wo sollte eine überzählige Apfelsine hergekommen sein? Ich blickte abwechselnd auf William und auf die Frucht, und ich fühlte dumpf in mir, dass es mit der Apfelsine eine besondere Bewandtnis haben müsse. Und auf einmal kam mir zu Bewusstsein, dass die Apfelsine bereits geschält war, und als ich näher hinblickte, wurde mir alles klar. Tränen kamen in meine Augen, und als ich die Hand ausstreckte, um die Apfelsine zu nehmen, da wusste ich, dass ich fest zupacken musste, damit sie nicht in viele Teile auseinanderfiel.

Was war geschehen?

Zehn Knaben hatten sich im Hof zusammengetan und beschlossen, dass auch ich zu Weihnachten meine Apfelsine haben müsse. So hatte jeder die seine geschält und eine Scheibe abgetrennt, und die zehn abgetrennten Scheiben hatten sie sorgfältig und liebevoll zu einer neuen, schönen und runden Apfelsine zusammengesetzt.

Diese Apfelsine war das schönste Weihnachtsgeschenk in meinem Leben. Sie lehrte mich, wie tröstend echte Kameradschaft sein kann.

Nach Charles Dickens.

Herzlichst Michael Göhring, info@innenfokus.de