Der gefangene Ball

Vera war gut in der Schule, sogar in Sport. Nur Ballspielen konnte sie nicht. Alle Mitschülerinnen wussten es: Vera fängt keinen einzigen Ball. Dabei war sie sonst recht schnell, hatte passable Reaktionen und konnte gut sehen.

Vera ertrug, immer als einer der letzten in ein Ballspiel-Team gewählt zu werden. Vera fand sich damit ab, dass sie eben keine Bälle schnappen konnte. Als sie älter wurde, gewöhnte sie sich an den Gedanken, dass sie überhaupt Dinge, die durch die Luft flogen, nicht fangen konnte.

Wollte ihr Freund ihr den Autoschlüssel zuwerfen, wehrte sie ab und ging hin, um ihn sich zu holen. Wenn eine Freundin ihr beim Picknick einen Apfel zuwarf, landete der irgendwo im Gras. Und wenn beim Kramen ein Buch aus dem Regal fiel, ging Vera in Deckung, weil sie wusste, sie konnte es sowieso nicht aufhalten.

Vera wurde Mutter. Eines Tages saß sie bei ihrem Kind und freute sich über dessen erste selbständige Essversuche. Das Kind feuerte mit einer unkoordinierten Armbewegung eine Plastikschüssel voll Karottenbrei von seinem Tisch. Ohne zu denken griff Vera danach und fing das Schlüsselchen im Flug auf. Kurz darauf machte sich der Löffel selbständig. Wieder fing Vera ihn mit einer einzigen Handbewegung. So ging das eine ganze Weile, bis ihr plötzlich dämmerte, dass etwas an dieser Sache ungewöhnlich war.

Als ihr Mann heimkam, machte sie den Test. “Wirf mir einen Ball zu!”, forderte sie ihn auf. Ihr Mann warf, Vera fing. Plötzlich wusste sie, was all die Jahre los gewesen war: Irgendwer hatte ihr und allen eingeredet, sie könnte nicht fangen. Und die Mitschülerinnen und sie selbst hatten es geglaubt. So sehr, dass sie wirklich nichts fangen konnte. Nichts hatte dieses Bild ins Wanken bringen können – bis zu diesem Moment.

Aus “Moderne Parabeln” von Stefanie Widman und Andreas Wenzlau.

Ihr Michael Göhring, info@innenfokus.de